Oktober, das heißt: Wintersemester-Start. Vor der einen oder anderen Dekade galt das auch für mich. Als „Ersti“ an der Uni Konstanz. Eintauchen ins Studentenleben und in eine neue spannende Welt. Aber kaum immatrikuliert, streikte man auch schon. Geil. Wenn ich mich richtig erinnere, ging es gegen die Bildungspolitik, gegen die Regierung und alles Schlechte auf der Welt.
Streiken statt studieren
Auf jeden Fall war mächtig was los: Streik-Café, Streik-Flyer, Streik-Shirts, Streik-Plakate, Streik-Demo, Streik-Vorlesungen auf der Bodensee-Fähre. Großes Politkino und richtig Stimmung bei den Sonderversammlungen im Audimax. Vorne die auf Krawall gebürsteten AStA-Typen, die immer wieder „Konstanz“ schrien, also Konschtanz ohne „sch“. Und an den Ausgängen im Pullunder, mit geschniegeltem Haar und verächtlich blickend: die Jungs vom RCDS. Heute würden beide Seiten wahrscheinlich gemeinsam in der Mensa hocken und große Koalitionen schmieden, aber damals waren die Linien zwischen Gut und Böse halt noch ganz klar abgesteckt. Unter Studenten sowieso. Bei VWLern musst du aufpassen, so die Warnung, und die Juristen – um Gottes willen! Die verstecken in der Bibliothek gegenseitig die Bücher und reißen aus purem Karrierestreben prüfungsrelevante Seiten aus den Gesetzesbänden raus. Soweit die hartnäckigen Gerüchte. Und ehrlich gesagt: Ich zweifelte nie an ihrem Wahrheitsgehalt.
Im Labyrinth der Uni-Bib
Apropos Bib. Unendliche Reihen von ungelesenen Büchern. Ein mehrstöckiges Labyrinth, in dem das gesamte nützliche und unnütze Wissen der Menschheit zu stecken schien. Manchmal, auf der Suche nach einem Essay in einem uralten englischsprachigen Philosophie-Schinken schickte einen die Bib-Suchmaschine in Etagen und Gänge, die zuvor offenbar noch nie ein Mensch gesehen und betreten hatte. Und dann, angekommen in diesem letzten gottverlassenen Winkel der Uni-Bibliothek: Totenstille. Jetzt sterben, so fuhr es einem durch den Kopf, und deine Überreste findet erst wieder ein Student im Wintersemester 2027/28, der sich bei der Fahndung nach einem mutwillig umsortierten Juristenbuch an die Stelle des Grauens verirrt.
Giftalarm!
Aber ich wäre dann in jedem Fall doch viel früher aufgefunden worden. Spätestens um das Jahr 2010 herum, als sich ein Anti-Asbest-Trupp daran machte, sämtliche Bücher zu evakuieren und Seite um Seite von giftigen Rückständen zu säubern. Diese Bib-Reiniger hätten meine Gebeine wohl einfach mit in einen Plastiksack gesteckt, mitsamt dem Habermas-Wälzer im Regal über mir, und dann entseucht. War eine Riesenaktion, die Sanierung. Seit diesem Mai erst ist die Uni-Bücherei wieder komplett eröffnet. Und jetzt: alles clean und topmodern. Wow!
Sieben Jahre hat die Sanierung gedauert. Sieben Jahre! Eine Zeit, in der man früher so allmählich alle Scheine fürs Grundstudium zusammen hatte. Der Student von heute packt da locker drei Bachelorstudiengänge inklusive Auslandspraktika und halber Masterarbeit rein, und ein Assessment Center beim Weltkonzern seiner Wahl obendrauf. Hab ich alles nicht gemacht. Dafür eine Menge Party. Und Plakate gepinselt. Zwar nicht für die Revolution oder den nächsten Streik. Aber immerhin für mit die besten Clubnächte der Stadt. Und zur Magisterarbeit hat‘s doch auch gereicht. Die hab ich zwanzig Minuten vor der Deadline und nach 48 Stunden ohne Schlaf abgeliefert. Ob‘s den Typ vom Prüfungsamt noch gibt? Der sah sympathischer Weise so gar nicht nach Uni aus und hatte einen Schalke-Wimpel im Büro hängen, was ich ihm unter diesen Umständen nicht mal übel genommen habe. Google sagt: Es gibt ihn tatsächlich noch!
In der akademischen Gruft
Mein Philosophie-Professor dagegen ist weg emeritiert, außer sie haben ihn in seinem Büro vergessen. Da musste ich einmal notgedrungen hin. Er residierte in einem Zimmer, wie es sich Kafka nicht hätte besser ausdenken können. Das Tageslicht hatte trotz fünf Meter langer Fensterfront gen Süden nicht die geringste Chance, durch die deckenhoch gestapelten Türme aus Büchern, Ordnern, Mappen und losen Manuskripten zu dringen. Alter Staub und der Geruch eines exorbitanten Intelligenzquotienten lagen in der Luft. Irgendwo mittendrin in dieser akademischen Vorhölle erahnte ich eine menschliche Kreatur, die mein Prof sein musste. Jedenfalls sprach aus dem Dunkel in schlauen Worten ein Schatten mit mir, griff in einen riesigen Papierberg – der im Widerspruch zu sämtlichen physikalischen Gesetzen sein Gleichgewicht beibehielt – und händigte mir meine korrigierte Hausarbeit aus.
Sonne statt Statistik
Nun aber schnell wieder raus an die Sonne. Die war im Sommersemester so toll, dass die Frage Statistik-Vorlesung oder Chillen auf der Uni-Terrasse schnell beantwortet war. Und so hatte man schon Anfang Mai einen Teint beieinander, für den VWL-Studenten ein Abo im Sonnenstudio benötigten.
Ach, Uni Konstanz. Ich muss unbedingt mal wieder hin, müsste noch Resteguthaben auf meinen Kopier- und Mensakarten haben. Und ich könnte bei der Gelegenheit nachschauen, ob meine Magisterarbeit noch ordentlich im Regal im Buchbereich SOZ steht. Aber davon ist eigentlich auszugehen, denn ein Jurastudent hat die sicher noch nie vor einem Rivalen verstecken müssen.